9

 

»Ich wünschte, du hättest ein paar Kleenextücher«, murmelte ich und schmiegte mich an seine Brust. Unsere Kleider lagen irgendwo mit unter den Decken, die meisten zumindest.

»Nimm einfach mein Sweatshirt«, sagte er träge, und ich unterdrückte ein Kichern.

Ich tastete danach und fand etwas, das sich wie ein Sweatshirt anfühlte. »Hoffentlich hast du das ernst gemeint, denn ich benutze es jetzt«, sagte ich.

»Nur zu.« Er küsste mich auf den Scheitel.

Ich trocknete mich also ein wenig ab und tupfte auch an ihm herum.

»He, pass auf, das ist mein Lieblingskörperteil«, murmelte er.

»Meines auch«, erwiderte ich, was ihn zum Lachen brachte. Ich spürte, wie sein Bauch wackelte, es war herrlich.

»Ich hätte nie gedacht, dass wir das je tun würden«, sagte er plötzlich ganz ernst.

»Ich auch nicht. Ich dachte, ich würde dir bis in alle Ewigkeit dabei zuschauen, wie du mit Kellnerinnen verschwindest.«

»Und du mit Polizisten, wie der in Sarne. Der hat mir wirklich Angst gemacht. Von Manfred ganz zu schweigen.«

»Ehrlich?«

»Zunächst einmal diese Piercings und Tätowierungen, die muss man erst mal ertragen. Und dann ist er auch noch total verknallt in dich. Seine Großmutter wird auch nicht ewig leben. Ich habe nur darauf gewartet, dass Manfred dich überallhin begleitet, wenn Xylda erst mal tot ist. Und dass du darauf bestehst, dass ich endlich das normale Leben führe, zu dem du mich immer drängen willst. Dass du mich fallen lässt und dir Manfred als Manager nimmst. Und ich mir einen Job weit weg von dir suchen muss.«

»Aber das wird nicht passieren, stimmt's?«

»Nicht, wenn ich auch noch ein Wörtchen mitzureden habe. Und das habe ich doch?«

»Ich glaube, ich habe dir bereits gesagt, wie ich zu dir stehe.«

»Ich höre es auch gern noch einmal.«

»Kommt gar nicht infrage. Du zuerst.«

»Ich liebe dich. Ich liebe dich nicht so, wie man eine Schwester lieben sollte. Ich liebe dich wie ein Mann, der eine Frau liebt. Ich möchte wieder in dir sein, jetzt sofort. Ich möchte ständig Sex mit dir haben.«

Ich musste schwer an mich halten, um nicht laut aufzuquetschen. Wirklich? Ich holte tief Luft. »Warum?«, fragte ich, was womöglich keine so gute Idee war.

»Weil du schön bist und intelligent«, sagte er wie aus der Pistole geschossen. »Und wenn du etwas machst, machst du es richtig. Weil du ehrlich bist, und weil ich deine Brüste bereits seit Jahren sehen will. Aber hier ist es verdammt dunkel, und ich sehe sie nicht.«

»Ich habe einmal deinen Schwanz gesehen, als du aus der Dusche kamst und die Tür nicht richtig zu war«, sagte ich. »Das ist jetzt ein Jahr her.«

»Oh, und seitdem träumst du davon«, sagte er erwartungsvoll.

»Nun ja, ehrlich gesagt... doch. Aber deswegen braucht dir nicht gleich der Kamm zu schwellen.«

»Da schwillt ein ganz anderer Kamm.«

»Das habe ich auch schon gemerkt.« Ich strich ihm mit dem angefeuchteten Daumen darüber.

»O Gott.«

Ich tat es erneut.

Diesmal hielt er nur den Atem an. »Mach weiter«, sagte er.

Ich gehorchte, woraufhin ihm ein paar Dinge einfielen, die mir gefielen. Wir machten so lange weiter, bis wir wieder eins waren. Diesmal war es noch besser, und wir kamen gleichzeitig zum Höhepunkt. Ich hatte schon Angst, wir würden uns in Stücke lieben. Diesmal schlief er fast gleich danach ein, und nachdem ich erneut sein Sweatshirt missbraucht hatte, machte ich es ihm nach.

Ich schlief so tief und fest, dass mich der laute Krach völlig überraschte. Ehrlich gesagt, versetzte er mich dermaßen in Angst, dass ich fast laut aufgeschrien hätte.

»Da ist ein Baum umgefallen«, sagte Tolliver. »Es war bloß ein Baum. Beruhige dich, mein Schatz, er hat ja zum Glück nicht uns erwischt.«

Wir schlüpften in unsere Kleider. Das Sweatshirt wollte Tolliver allerdings mit der Bemerkung »zu nass« nicht anziehen. Er tastete nach seinem Koffer, holte ein anderes Sweatshirt hervor und noch irgendetwas. Ich suchte auf meiner Seite des Bettes am Boden nach meinen Stiefeln.

Nach zahlreichen »Huchs« und »Wo bist du? Ich habe die Taschenlampe gefunden« fanden wir schließlich einander und traten ans Fenster. Tolliver machte die Taschenlampe an, und wir sahen nach draußen. Es war eine ganz große, suchscheinwerferartige, die er bei Wal-Mart gekauft hatte. Sie zeigte uns, dass die Kiefer, die den Hamiltons schon Sorgen bereitet hatte, tatsächlich unter der Last des Eises umgefallen war. Aber aufgrund irgendeiner uns unerklärlichen Kraft war sie in die andere Richtung gestürzt und blockierte die Auffahrt der Hamiltons. Ich hatte das ungute Gefühl, dass sich ihr Wagen darunter befand.

»Ist wenigstens ihr Dach unbeschädigt?«, fragte ich. Aber das konnten wir von uns aus nicht erkennen.

»Ich fürchte, ich muss rübergehen und nach ihnen sehen«, sagte Tolliver.

»Ich komme mit«, sagte ich.

»Nein, das kommt gar nicht infrage, nicht mit einem gebrochenen Arm, wenn draußen Glatteis liegt. Wenn drüben irgendwas nicht stimmt, komme ich und hole dich«, sagte er. »Apropos, wie geht es eigentlich deinem Arm? Ich hoffe, wir haben ihn nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen?«

»Nein, es geht ihm ganz gut.«

»Ich bin in wenigen Minuten wieder da.«

Ich hatte seinen Argumenten nichts entgegenzusetzen. Sie waren vernünftig.

Ich wartete in der kalten Hütte, während sich Tolliver die zugefrorene Treppe hinunter und langsam durch den Vorgarten bis zu den Hamiltons tastete. Ich stocherte im Kaminfeuer und legte einen Holzscheit nach. Dann zog ich einen Stuhl ans Fenster und wickelte mich in eine Decke.

Ein Teil von mir verfolgte aufmerksam den Lichtkegel der Taschenlampe, die Tolliver in der Hand hatte. Und ein Teil von mir war wie weggetreten und schrie ebenso entsetzt wie entzückt: »Du hast gerade mit Tolliver geschlafen! Du hast gerade mit Tolliver geschlafen!« Erst mit der Zeit würde sich herausstellen, ob wir gerade die beste Beziehung unseres Lebens ruiniert oder die Tür zu noch größerem Glück aufgestoßen hatten.

Was für ein kitschiger Gedanke! Aber wer weiß, vielleicht ging alles gut aus. Ich riss mich aus meinen idiotischen Gedanken und sah, dass Tolliver wegen der Äste Schwierigkeiten hatte, das Haus der Hamiltons zu erreichen.

Ich öffnete umständlich das Fenster, mit einer Hand war das wirklich nervig.

»Soll ich dir helfen?«, rief ich. Meine Stimme klang erschreckend.

Ich spürte, wie Tolliver sich zusammenriss, um nicht zu sagen, dass er das am allerwenigsten gebrauchen könne. »Nein danke«, erwiderte er unglaublich beherrscht. Allein beim Klang seiner Stimme stockte mir der Atem. Sie klang anders als sonst. Das, was sie so angespannt und angestrengt hatte klingen lassen, war verschwunden. Ich schwebte so in den Wolken wie ein Mädchen, das gerade seinen ersten Zungenkuss bekommen hatte, und zwang mich ins Hier und Jetzt zurück.

Die Tür der Hamiltons ging auf, und ich erkannte Ted Hamilton. Er trug eine Mütze, die lächerlich wirkte, aber dumm war das nicht, wenn man weiß, wie viel Hitze der Körper über den Kopf verliert. Er und Tolliver wechselten ein paar Worte, dann trat Tolliver den Rückweg zu unserem provisorischen Zuhause an.

»Gott, ist das kalt da draußen«, sagte er, nachdem ich ihm die Tür aufgerissen hatte, und ging sofort zum Kamin. Er legte noch mehr Holzscheite nach und blieb einen Moment dicht davor stehen, das Gesicht so nahe an den Flammen wie möglich, ohne dass sein Schnurrbart Feuer fing. Angesichts der wohltuenden Wärme schloss er die Augen.

»Alles in Ordnung bei den Hamiltons?«

»Ja. Aber sie sind stinksauer. Ted hat Sachen von sich gegeben, die er sich aus dem Koreakrieg aufgespart haben muss. Ich war froh, nicht zur McGraw-Familie zu gehören. Er hat tatsächlich vor, sie anzuzeigen.«

»Ob er vor Gericht eine Chance hat?«

Tolliver machte eine verächtliche Geste.

»Ich finde das lächerlich, aber du weißt ja, wie die Rechtsprechung sein kann.«

Wir blickten einander stumm an.

»Tut es dir leid?«, fragte er.

»Nein. Und dir?«

»Wir hätten es längst tun sollen. Du hast ständig gesagt, dass ich dich verlassen soll. Ich wusste nicht, ob du das wirklich ernst meinst. Schließlich habe ich beschlossen, ins kalte Wasser zu springen. Was ging bloß in dir vor?«

»Ich liebte dich so sehr, dass ich dich, so dachte ich, nicht in meiner Nähe haben durfte, damit du nicht merktest, was ich wirklich für dich empfand. Ich dachte, du fändest das vielleicht ekelhaft oder krank. Oder aber ich täte dir leid, und du würdest dich für mich verantwortlich fühlen, was noch schlimmer gewesen wäre.«

»Du bist für mich eine bewundernswerte Frau, die stets das Beste aus allem macht«, sagte er. »Du wirst vom Blitz getroffen, aber anstatt zu jammern und einen Behindertenausweis zu beantragen, entdeckst du eine praktische Gabe und schaffst es, sie dir zunutze zu machen. Du besitzt die Intelligenz und das Charisma, auf deine ganz eigene Weise Erfolg zu haben.«

»Charisma«, sagte ich spöttisch.

»Und ob, oder ist dir noch nie aufgefallen, dass Männer auf dich stehen?« »Vielleicht Teenager«, sagte ich. »Aber die sind nicht gerade der Traum meiner schlaflosen Nächte.«

»Nicht nur Teenager«, sagte Tolliver. »Die wissen nur noch nicht, wie man seine Gefühle versteckt.«

»Du willst doch nicht etwa behaupten, dass ich ein Männerschwarm bin? Wach auf!«

»Keiner wie Shakira oder Beyoncé. Du bist keine vollbusige Blondine, aber auf deine Art durchaus attraktiv, glaub mir, Männer merken das.«

»Hauptsache, dieser Mann hier merkt das«, sagte ich. Ich sah zu ihm auf.

»Du hast mir kurzzeitig die Sprache verschlagen«, sagte er.

Ich sah zu Boden und lächelte. »Wenigstens kennst du bereits alle meine schlechten Eigenschaften.«

»Ich wusste nicht, dass du derartige Geräusche machst, wenn du kommst«, sagte er, was nun mir einen Moment lang die Sprache verschlug.

»Und ich wusste nicht, dass dein Schwanz eine leichte Biegung nach oben hat«, erwiderte ich.

»Tja ... äh, wie fühlt sich das ..., ich meine, ist das okay für dich?«

»O ja«, versicherte ich ihm. »Er trifft bei mir einen ganz wunderbaren Punkt.«

»Echt? Hmmmmm.«

»Und ich überlege gerade, ob du nicht vielleicht wieder...«

»Ja?«

»Ob du nicht vielleicht wieder Lust hättest, ihn zu treffen.«

»Dazu könnte ich mich durchaus überreden lassen. Wenn du dir vorher ordentlich Mühe gibst.«

»Soll ich dir einen blasen?«

Im Widerschein der lodernden Flammen konnte ich sehen, wie sich seine Pupillen weiteten. »Oh«, sagte er.

»Soll ich dich lecken? So?« Ich streckte meine Zunge heraus und ließ sie ihrerseits flackern.

»Das dürfte die entsprechende Wirkung erzielen«, sagte er heiser. »Meine Güte, Harper, ich verstehe nicht, warum nicht ein ganzer Rattenschwanz Männer hinter uns herzieht, nur um dich in dieser Pose zu erleben.«

»Weil ich das noch nie für einen anderen gemacht habe«, sagte ich. »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mit anderen auch so rede?«

»Bitte«, sagte er. »Bitte mach es mir. Aber keinem anderen.«

Ich kniete mich vorsichtig vor ihn hin und zog seine Jogginghose sowie seine lange Unterhose herunter, die er vor seiner Exkursion zu den Hamiltons angezogen hatte. Dass er noch etwas anhatte, schien mein Vorhaben nur noch aufregender zu machen.

Ich blickte zu ihm auf, um zu sehen, ob er mich ansah, während ich mein Versprechen einlöste. Allerdings, er verfolgte jede meiner Bewegungen, als hätte ich ihn hypnotisiert.

»O mein Gott«, sagte er. Er reagierte genau so, wie ich mir das gewünscht hatte.

Meinen eher beschränkten Erfahrungen nach sind Männer stets dermaßen froh, überhaupt Sex zu bekommen, dass es ihnen egal ist, wie unbeholfen sich ihre Partnerin dabei anstellt. Männer rufen keine Diskussionsgruppen ins Leben, sondern wollen einfach nur einen Orgasmus haben. Es reicht, wenn man ihren Penis ins richtige Loch steckt und ein paar enthusiastische Geräusche dazu macht, und schon geht ihnen einer ab. Für sie genügt sozusagen das ganz normale Fernsehprogramm.

»Für dich, mein Schatz, gibt es jetzt den Spezialsender«, sagte ich und entlockte ihm damit ein Stöhnen.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fiel die Sonne strahlend hell durch die gardinenlosen Fenster. Ich blinzelte fröstelnd. Ich kroch tiefer unter die Decke, schmiegte mich an den anderen Körper in meinem Bett. Tolliver! Ich lag mit Tolliver im Bett, und wir waren nackt. Ich seufzte selig und küsste seinen Nacken, weil ich dort am besten hinkam.

»Ich fürchte, ich muss jetzt aufhören, dich ›Schwester‹ zu nennen«, sagte er schlaftrunken.

»Mhm.«

»Ich schätze, Manfred hat jetzt ein bisschen Pech.«

»Mhm.«

»Die Kettensägen bedeuten wohl, dass Leute draußen den Baum zersägen, und wir haben nichts an.«

»Oh... nein.«

»Doch, hörst du sie?«

Ich hörte sie. War es nicht komisch, dass es an diesem See fünfzig leer stehende Blockhütten gab, und unsere die einzige mit Nachbarn war? Ich würde jetzt aufstehen, zur Toilette gehen und mit einem Eimer Wasser nachspülen müssen. Igitt. Außerdem musste ich mich dringend ein wenig waschen, was bedeutete, nackt in dem kalten Bad zu stehen, ohne Vorhänge am Fenster, während die blöden Hamiltons da draußen ihren Wagen von Baumstücken zu befreien versuchten.

»Ich hoffe, ihr Auto ist platt wie ein Pfannkuchen«, sagte ich.

»Das meinst du nicht ernst!«

»Nein. Na ja, doch. Ein bisschen schon.« Ich lachte. »Ich will nur nicht aus dem Bett.«

»Meinst du, sie kommen die Treppe hoch und schauen durchs Fenster?«

»O ja, ich rechne jede Sekunde damit.« Seine Hand suchte meine unter den vielen Decken und drückte sie fest.

»Ich will dieses Bett auch nicht verlassen«, sagte er und küsste mich. »Aber ich bin auch ein wenig erschöpft.«

»Oh, du Ärmster. Habe ich dich so fertiggemacht?«

»Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst.«

»Komisch, dafür fühlst du dich aber ziemlich gut an«, sagte ich und fuhr mit der Hand über seinen flachen, muskulösen Bauch.

»Weib, wenn ich deine unersättlichen Bedürfnisse stillen soll, muss ich dringend neue Kräfte tanken«, sagte er.

»Du weißt noch gar nicht, was unersättlich ist«, sagte ich. Dann hörte ich auf zu lächeln. »Ich kann kaum glauben, dass wir es wirklich getan haben, Tolliver. Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht.«

»Ich auch. Aber mein Stoffwechsel sagt mir, dass ich jetzt erst einmal dringend was essen muss.«

Ich küsste ihn. »Ganz, wie Sie meinen.« Ich schlüpfte in meine Schlafanzughose und sauste ins Bad. Eine schier unerträglich kalte Viertelstunde später war ich einigermaßen sauber und hatte diverse Schichten frischer Kleidung an. Ich trug zwei Strümpfe übereinander und Gummistiefel, die Tolliver am Vortag aus einem Wal-Mart-Regal gezogen hatte. Während Tolliver im Bad war, stöberte ich in den Regalen über dem Herd und entdeckte einen billigen Aluminiumtopf. Ich goss Wasser hinein und stellte ihn auf eine einigermaßen ebene Fläche im Kamin. Als das Wasser warm war, benutzte ich Tollivers zusammengefaltetes Sweatshirt, um den Topf aus dem Feuer zu holen und goss das heiße Wasser in zwei Becher mit Instantschokolade. Wir hatten auch noch ein paar gefüllte Mürbeteigtaschen. Der Zucker würde uns neue Energie geben.

Tolliver lächelte, als er die dampfenden Becher sah. »Ah, fantastisch«, sagte er, »danke, du Wunderbare.« Wir setzten uns auf die beiden Stühle am Kamin, tranken und aßen und lauschten dem Transistorradio. Es hieß, die Straßen seien in einem katastrophalen Zustand, und obwohl die Temperatur am Nachmittag auf über null Grad klettern würde, würden die Straßen erst am nächsten Morgen wieder frei sein. Und selbst dann wäre noch mit einzelnen Eisplatten zu rechnen. Die Leute von der Stromgesellschaft würden umgestürzte Strommasten reparieren, die man melden sollte, und in abgelegenen Farmen nach dem Rechten sehen. Bürger wurden aufgerufen, sich um ihre älteren Nachbarn zu kümmern. Ich sah aus dem Fenster. »Den Hamiltons geht es gut, Tolliver.«

»Hast du dein Handy schon ausprobiert?«, fragte er.

Als ich es anmachte, fand ich mehrere Nachrichten vor.

Die erste war von Manfred.

»Hallo Harper, meine Großmutter hatte gestern Abend einen Totalzusammenbruch, sie liegt hier in Doraville im Krankenhaus«, sagte Manfred. Die zweite Nachricht stammte von Twyla, die hoffte, dass es uns in ihrer Hütte gut ginge. Die dritte Nachricht war wieder von Manfred. »Es wäre großartig, wenn du mit Tolliver vorbeischauen könntest. Ich muss mit euch über Großmutter reden«, sagte er bemüht erwachsen, was ihm jedoch nicht recht gelang.

»Das klingt aber gar nicht gut«, sagte ich. »Das klingt ganz nach Apparate abstellen und so.«

»Glaubst du, wir kommen bis in die Stadt?«, fragte Tolliver. »Ich weiß nicht mal, ob wir es die Auffahrt hoch schaffen.«

»Hast du gar nicht mitbekommen, dass ich das Auto weggefahren habe, bevor der Sturm aufzog? Es steht an der Straße.«

»Wo jeder, der versucht, diese schmale Straße entlangzufahren, direkt hineinrauschen kann?«

»Wo wir keine vereiste, steile Auffahrt hochfahren müssen, um am Ende wahrscheinlich im See zu landen.« Guter Sex und eine veränderte Beziehung schienen kleine Streitereien nicht auszuschließen.

»Okay, ich geb's zu, die Idee war gut«, sagte er. »Mal sehen, ob wir es um die Mittagszeit in die Stadt schaffen, wenn das meiste geschmolzen ist.«

Irgendwie kamen wir gar nicht mehr dazu, weiter über das zu reden, was zwischen uns vorgefallen war, und irgendwie war das auch gut so. Tolliver wurde erwartungsgemäß unruhig, packte sich warm ein und ging nach draußen, um Ted Hamilton ein, zwei Stunden zu helfen. Als er wieder die Treppe hochkam, konnte ich hören, wie er mit den Füßen aufstampfte, um seine Stiefel von Schnee und Eis zu befreien. Ich saß lesend am Kamin und sehnte mich ebenfalls nach Bewegung. Ich sah ihn erwartungsvoll an, und er kam zu mir und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, als wären wir ein altes Ehepaar.

»Dein Gesicht ist eiskalt«, sagte ich.

»Mein Gesicht besteht nur noch aus Eis«, verbesserte er mich. »Hast du Manfred angerufen? Wir haben einen Wagen vorbeifahren sehen, während wir arbeiteten, und der schien gut durchzukommen.«

»Ich rufe ihn sofort an«, sagte ich, konnte jedoch nur eine Nachricht auf Manfreds Mailbox hinterlassen.

»Wahrscheinlich hat er im Krankenhaus das Handy ausgemacht«, meinte Tolliver.

Ich öffnete den Mund, um ihm ein paar Fragen zu unserer veränderten Beziehung zu stellen, fand es dann aber doch klüger, ihn wieder zuzumachen. Warum sollte Tolliver mehr dazu zu sagen haben als ich?

Ich entspannte mich. Mit der Zeit würden wir schon noch alles herausfinden. Wir mussten schließlich nicht gleich Hochzeitseinladungen verschicken. Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke. »Unsere neue Beziehung wird vielleicht etwas verwirrend für unsere Schwestern sein«, sagte ich.

Tollivers Gesicht entnahm ich, dass ihm der Gedanke noch gar nicht gekommen war. »Ja«, sagte er. »Da hast du recht. Mariella und Gracie... o Gott, Iona.«

Unsere Tante Iona - genauer gesagt, meine Tante Iona - hatte das Sorgerecht für unsere beiden Halbschwestern, die deutlich jünger waren als wir. Iona und ihr Mann erzogen die Kinder ganz anders, als sie es von unseren Eltern gewohnt gewesen waren. In gewisser Hinsicht hatten sie damit auch völlig recht. Es ist deutlich besser, als fundamentalistischer Christ erzogen zu werden, als ein Kind zu sein, das keine richtigen Mahlzeiten kennt, ein Kind, das dem wie auch immer gearteten Abschaum, den unsere Eltern in den Wohnwagen ließen, hilflos ausgeliefert war. Denn so war ich als Teenager aufgewachsen. Mariella und Gracie waren ordentlich gekleidet, gut ernährt und sauber. Sie hatten ein stabiles Zuhause, in das sie jeden Tag zurückkehren konnten, und Regeln, die sie einhalten mussten. Darüber musste man froh sein, und wenn sie wegen ihrer Vergangenheit manchmal dagegen revoltierten, konnte man auch nichts daran ändern. Wir versuchten den Mädchen eine Brücke zu bauen, aber es war und blieb ein harter Kampf.

Uber Ionas Reaktion auf unsere neue Beziehung wollte ich gar nicht erst nachdenken. »Am besten, wir machen uns darüber Gedanken, wenn es so weit ist«, sagte ich.

»Wir haben nichts zu verbergen«, sagte Tolliver unerwartet heftig. »Und ich habe auch nicht vor, es zu versuchen.«

Das klang angenehm verlässlich. Ich wusste, was ich fühlte, aber es ist immer schön, wenn man weiß, dass der Partner die Gefühle teilt. Ich seufzte vor Erleichterung.

»Kein Versteckspielen«, sagte ich.

Wir aßen Sandwiches mit Erdnussbutter zu Mittag. »Teds Frau hat auf ihrem Holzherd bestimmt ein herzhaftes, gesundes Viergangmenü gezaubert«, sagte ich.

»He, du isst die meiste Zeit auch herzhafte, gesunde Sachen.«

Meine Essgewohnheiten waren während unseres Aufenthalts in Doraville deutlich den Bach hinuntergegangen. Ich würde wieder mehr auf gesundes Essen achten müssen. Bei meinen diversen Gesundheitsproblemen war es ratsam, sie durch eine vernünftige Lebensweise möglichst einzudämmen.

»Wie geht es deinem Bein?«, fragte Tolliver, der genau dasselbe gedacht hatte.

»Ziemlich gut«, sagte ich, streckte mein rechtes Bein aus und massierte den Oberschenkel. »Aber ich merke schon, dass ich ein paar Tage nicht joggen war.«

»Wann darf der Verband ab?«

»In fünf Wochen, hat der Arzt gesagt. Bis dahin sollten wir in St. Louis sein, und ich kann mich von unserem Arzt untersuchen lassen.«

»Prima.« Tolliver grinste so breit, dass er bestimmt daran dachte, was noch alles einfacher wäre, wenn mein Arm erst wieder gesund wäre.

»Los, komm her«, sagte er. Er saß vor dem Kamin auf dem Boden, an einen der Stühle gelehnt und klopfte zwischen seinen Beinen auf die Erde. Ich setzte mich an die angegebene Stelle und kuschelte mich an ihn. Er legte den Arm um mich. »Unfassbar, das ich das einfach so tun darf«, sagte er. Hätte mein Herz mit dem Schwanz wedeln können, dann hätte es das getan. »Ich darf dich anfassen. Ich darf dich anfassen, sooft ich will. Ich muss nicht erst jedes Mal zweimal darüber nachdenken.«

»Hast du wirklich jedes Mal zweimal darüber nachgedacht?«

»Ich hatte Angst, dich zu verschrecken.«

»Mir ging es ganz genauso.«

»Schön blöd.«

»Ja, aber jetzt geht es uns gut.«

Wir blieben glücklich und zufrieden sitzen, bis Tolliver meinte, sein Bein sei eingeschlafen. Dann beschlossen wir, jetzt sei es an der Zeit, in die Stadt zu fahren.

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